
Nachdem Präsident Selenskij dem Oberkommandierenden erklärte, sich aus der Politik herauszuhalten, verlangt nun eine Abgeordnete der „Diener des Volkes“ seinen Rücktritt wegen fehlender Kriegsplanung.
In der Ukraine könnte sich eine Regierungskrise anbahnen, da militärische Erfolge ausbleiben, die westliche Nabelschnur mit Geld- und Waffenlieferungen ins Stocken kommt und der Gaza-Krieg den Ukraine-Krieg auch aus der Aufmerksamkeit verdrängt hat. Bislang konnten Selenskij durch seine Auftritte erheblichen Druck auf westliche Regierungen wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit ausüben. Das hat sich seit Beginn des Jahres allmählich geändert, als die Versprechen einer angekündigten Großoffensive nicht eingelöst wurden und deutlicher wurde, dass ein militärischer Sieg mit der Schwächung/Zerschlagung Russlands und die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 in immer weitere Ferne rückten. Und plötzlich zogen der Angriff der Hamas und die israelische Offensive als Reaktion nicht durch die Aufmerksamkeit, sondern auch die Argumentation von der Ukraine ab, den Westen oder die Freiheit gegen das Böse oder den Terror zu verteidigen.
Schon lange wurde gesagt, es gebe einen Konflikt zwischen dem Präsidenten Selenskij und dem Oberkommandierenden Saluschni (Saluschnyj). Selenskij würde fürchten, dass der angeblich in der Bevölkerung beliebte Saluschni bei Wahlen gegen ihn antreten könnte, zudem soll es Differenzen über die militärische Strategie geben, beispielsweise um die verlustreiche und symbolische Verteidigung etwa von militärstrategisch unbedeutenden Städten wie Bachmut und Awdejewka (Avdijivka).
Nachdem Saluschni in einem Artikel im Economist geschrieben hatte, dass man sich mit Russland in einem Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg befinde, was enorme Risiken für die Ukraine mit sich bringe, kocht der Streit mit Selenskij offen, der weiterhin Optimismus verbreiten und letztlich den militärischen Sieg verkünden will, um die Nation und die Unterstützterstaaten zusammenzuhalten. Saluschni erklärte zwar auch, dass es mit besserer Militärtechnik, vor allem mit Luftüberlegenheit, neuen Drohnen, besserer elektronischer Kriegsführung, weitreichenden Artilleriepräzisionsgeschossen und Antiminentechnik sowie einer massiveren Mobilisierung einen Weg aus der Fall geben könnte.
Schon die Aufzählung machte deutlich, dass die Ukraine mehr denn je abhängig von den Nato-Staaten ist und nicht mehr auf die Allroundversorgung durch diese zählen kann. Es werde höchstwahrscheinlich keinen „tiefen und schönen Durchbruch“ geben. Vergleicht man den Artikel mit einem Interview, das er dem Economist im Dezember 2022 noch voller Zuversicht für die Frühjahrsoffensive trotz der Forderung nach gigantischen Waffenlieferungen und der Hoffnung auf eine Wundertechnik gegeben hat, so kann man erahnen, warum Selenskij einschreiten musste, um die Zuversicht, wie immer verzweifelt, im Land aufrechtzuerhalten und für weitere Waffenlieferungen zu werben. Als Zeichen der Uneinigkeit galt auch, dass Selenskij ohne Einbeziehung von Saluschni den Kommandeur der ukrainischen Spezialkräfte, Wiktor Chorenko, entlassen hatte. Schon kurz nach Veröffentlichung von Saluschnis Artikel im Economist war dessen Adjudant und Freund, Major Hennadij, an seinem Geburtstag durch einen Sprengsatz getötet worden. Unklar ist, ob es ein Unfall oder ein Anschlag war.
Und natürlich nicht zuletzt, um sich selbst zu retten, der die Ukraine im Krieg und im Glauben hielt, unter ihm und mit den westlichen Freunden über Russland siegen zu können. Selenskij ist in einer Zwangslage. Er hat sich als Kriegsfürst des tapfersten Landes präsentiert, das dem Bösen die Stirn bietet und die westliche Freiheit stellvertretend verteidigt. Er hatte Friedensverhandlungen letztes Frühjahr mit naivem Vertrauen auf Zuflüsterungen von Boris Johnson und wahrscheinlich Washington abgebrochen, wie David Arakhamia, Fraktionschef der „Diener des Volkes“ bestätigte, und wäre damit verantwortlich für viele Tote und massive Zerstörungen, wenn er letztlich, wie es jetzt aussieht, einen Friedensvertrag abschließen müsste, in dem die Ukraine weitere Gebiete an Russland abtreten müsste. Er hat sich zudem selbst unter Zwang gestellt und ein Gesetz erlassen, nicht mit Putin verhandeln zu dürfen. Sollte er dies dennoch machen, würde er vor allem den Nationalisten und den vielen Freiwilligenverbänden als Verräter gelten und könnte er sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Sein Fraktionschef hatte kürzlich deshalb schon einmal angedacht, dass eine Beendigung des Kriegs nur mit einem Referendum als Legitimation möglich sei („Sobald wir die Russen anrufen, werden sie sich am nächsten Tag an den Verhandlungstisch setzen“). Fragt sich nur, wie das in Kriegszeiten durchgeführt werden könnte und wer an ihm teilnehmen müsste?
Der Oberkommandierende ist bekennender Bandera-Anhänger
Selenskij stellte Saluschni jedenfalls als übergriffig dar. Er mische sich in Politik ein. Das würde aber einen General nur von der Kriegsführung ablenken, meinte er etwas hilflos. Es dürfe nur einen Oberbefehlshaber geben – klar, das ist Selenskij selbst -, Saluschni müsse sich entscheiden, entweder Oberkommandeur zu bleiben und den Mund zu halten oder den General an den Nagel zu hängen und Politiker zu werden (weil er dann an Ansehen verlieren dürfte). Ob im Hintergrund steht, dass Saluschni ausgewiesener Bandera-Anhänger ist („Die Richtlinien von Stepan Bandera sind dem Oberbefehlshaber wohlbekannt“) und den rechtsnationalistischen Dmitri Jarosch vom Rechten Sektor zu seinem Berater machte?
Saluschni ließ die Entscheidung gleich wieder im Dunklen verschwinden, Jarosch ist aber Kommandeur von mit dem Rechten Sektor verbundenen Freiwilligenverbänden und kann daher ganz offen militärisch agieren. Schon am 20. Februar kündigte er eine „systematische Reinigung ukrainischer Städte und Dörfer von Kollaborateuren und Abschaum“ an (Dmitri Jarosch oder die ukrainischen Freunde des Westens). Noch betont er die nationale Einheit, aber warnt schon mal: „Keiner der Zivilisten hat das Recht, den Mund über diejenigen an vorderster Front zu öffnen, die die Ukraine verteidigen.“ Und er stellt sich natürlich hinter Saluschni, der wiederum einen Tweet retweetet, in dem Jarosch ihn und die Militärführung preist. Und, weil offenbar die Sorge auch wegen des erhöhten russischen Militäretats umgeht, verfällt Jarosch auch mal wieder ins Drohen:
„Alle destruktiven Aussagen oder Aktionen sowohl der Behörden als auch der Opposition und einiger übermäßig gesprächiger Politiker hinten an vorderster Front schwächen Streitkräfte schwächen und führen damit zu schweren Personalverlusten und Verlust in Schlachten … Jedes Wort, das von Politikern, Stellvertretern, Beamten gegen die Ukraine und die Streitkräfte gesagt wird, jede anti-ukrainische Aktion (z.B. Unterstützung der Moskauer „Kirche“) sollte als Hochverrat angesehen und entsprechend bestraft werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein ewiger Feind unsere nationale Einheit besiegt und zum Zusammenbruch im Gebiet hinter der Front führt.“

Rücktritt gefordert
Der Zwist zwischen dem Präsidenten und seiner Partei und dem Oberkommandierenden geht weiter, auch wenn Saluschni dazu nichts sagt. Jetzt hat sich Mariana Bezuhla eingeschaltet, Abgeordnete der Selenskij-Partei „Diener des Volkes“ und stellvertretende Vorsitzende des Sicherheits-, Verteidigungs- und Geheimdienstausschusses der Rada. Sie fordert den Rücktritt von Saluschni, weil er keine Pläne für die Kriegsführung und die Anforderungen 2024 vorgelegt, sondern nur gefordert habe, dass monatlich 20.000 Ukrainer rekrutiert werden müssten. Sie bezog sich auch eine nicht-öffentliche Diskussion mit der Militärführung. Den Rücktritt von Saluschni zu verlangen, dürfte Bezuhla nur mit der Deckung des Präsidialamts und der Fraktionsführung gemacht haben, auch wenn sie das bestreitet. Es könnte darauf hinweisen, dass Selenskij den Oberkommandierenden, weil er keine Kriegsplanung habe, für den Stellungskrieg und das Scheitern der Offensive verantwortlich machen will.

Bezuhla moniert, dass Saluschni noch 2021, nachdem er von Selenskij als Oberkommandierender eingesetzt wurde, die Beschaffung von Drohnen als nicht notwendig erachtet habe. Unter Ex-Verteidigungsminister Resnikow sei alles, was das Militär forderte, bewilligt worden. Saluschni habe politische Vorgaben abgetan, eine demokratische Kontrolle habe es nicht gegeben. „Es gibt kein unabhängiges System zur Bewertung der Effektivität der Operationen der ukrainischen Streitkräfte, meine Versuche, es einzuführen, stießen auf internen Widerstand“, sagt sie.
Überhaupt sei die Kaste der Generäle vor Absetzung geschützt, während Dutzende von Brigadekommandeuren abgesetzt worden seien: „Die Generäle, die in interne Fraktionen unterteilt sind, sind Kasten. Die Kaste, die keine neuen Leute hereinlässt, ist etwas, das sich in den zwei Jahren des ausgewachsenen Krieges noch weiter entwickelt hat, als die militärische Führung enormen Reichtum und Macht erlangte. Das ist der Elefant, den wir nicht sehen, unter anderem aus Angst, dass unsere Komfortzone mit der harten Realität konfrontiert wird, dass es keine GÖTTER gibt.“
Bezuhla fordert, was wahrscheinlich auch Selenskijs Vorstellungen entspricht: „Wir müssen die Armee verändern, um zu gewinnen. Die Streitkräfte der Ukraine in ein modernes Unternehmen zu verwandeln, in dem das Leben eines Bürgers und die Effektivität der Operation gleichwertige untrennbare Bestandteile eines Ganzen sind, die zum Sieg führen.“ Sie steht nun wegen der offenen Kritik unter Beschuss. In der Rada wird verlangt, sie aus dem Ausschuss rauszuschmeißen. Die Abgeordnete Tatyana Tsyba von „Diener des Volkes“ warf ihr „Diskreditierung und Provokation vor, die dem Feind in die Hände spielt“. Und der Abgeordnete Jantschenko erklärte, dass es unmöglich sei, die Streitkräfte der Ukraine während des Krieges zu kritisieren. Von Selenskij und seinem direkten Umfeld ist noch nichts zu hören.
Dagegen wittert Senenskij-Konkurrent Poroschenko mit seiner Partei eine Chance, sich gegen die „Diener des Volkes“ zu profilieren, indem man sich hinter Saluschni und das Militär stellt: „Angriffe auf die Streitkräfte sind Angriffe auf die Ukraine“, schrieb Poroschenko. „Die Menschen haben Angst, sie wollen die Einheit der militärischen und militärpolitischen Führung sehen. Mir scheint, dass die Regierungspartei sich des Schadens bewusst sein sollte, den Maryana Bezugla derzeit vor allem dem Präsidenten, ihrem Team und dem ganzen Land zufügt“, sagte Iryna Geraschtschenko, Ko-Vorsitzende der Fraktion „Europäische Solidarität“.
Derweil sollen nun auch private Arbeitsvermittlungsfirmen eingeschaltet werden, um genügend Rekruten zu finden. Man braucht nicht nur Ersatz für die Soldaten an der Front, sondern auch für andere Aufgaben. Weil sich kaum mehr freiwillig meldet, sollen nun diejenigen, die man wegen ihrer Kompetenzen benötigt, das Vertrauen gewinnen, dass sie nicht an die Front versetzt werden. Gut möglich, dass das Misstrauen trotzdem hoch ist.
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